Stell dir vor, du gehst Schuhe kaufen. Willst die neuen Sneaker, so weiße, mit ner hohen Sohle, so wie alle sie gerade haben. Gefunden. Du willst sie anprobieren, aber sie sind einfach zu klein. Du versuchst mit aller Kraft dich da rein zu quetschen, aber es geht einfach nicht. Was machst du? Schneidest du dir deine Zehen ab, um reinzupassen oder wirst du einfach andere Schuhe auswählen? Ich denke, es ist klar. Aber warum versuchen wir dann in ein System zu passen, was offensichtlich gar nicht dazu gemacht ist, dass jeder hinein passt?
Das System
Das System, von dem ich rede, sieht für mich persönlich so aus: Du hast einen guten Job, in einem großen, erfolgreichen Unternehmen. Du arbeitest Montag bis Freitag, am Wochenende hast du frei. Du bist super erfolgreich, wenn du jede Woche 20 Überstunden machst und deinem Chef die Füße küsst. Am Wochenende triffst du deine Freunde. Ihr geht feiern und am Montag stehst du wieder gut gelaunt und top gestylt im Büro. Du verdienst super viel Geld, kannst es aber eigentlich nur beim Online Shopping ausgeben, denn die Geschäfte haben schließlich nur dann geöffnet, wenn du im Büro sitzt. Also stapeln sich die Pakete im Hausflur und du musst ständig was zurückschicken, weil es nicht passt. Frische Luft bekommst du mittags, zwischen 13 und 14 Uhr. Auf dem Weg zum Bäcker oder eben zur nächsten Poststation – du musst schließlich die zu großen Klamotten wieder zurück schicken.
Das machst du ein paar Jahre so. Du findest einen Partner, ihr heiratet und ihr bekommt ein Baby. Super cool, denn du bist ja in einem festen Arbeitsverhältnis und kannst entspannt in die Elternzeit gehen. Die ersten zwei Jahre mit Baby sind super zu Hause, dann gehst du in Teilzeit zurück. Irgendwie hat sich an deinem Arbeitspensum aber nichts geändert. Du musst einfach zusehen, dass du jetzt doppelt so schnell arbeitest, wie vor deiner Schwangerschaft, um in der Hälfte der Zeit das gleiche zu leisten. Warum auch nicht? Du bist schließlich Mutter. Hast automatisch bei der Geburt irgendwelche Superkräfte bekommen. Für mich – unvorstellbar.
Hallo Angst
Zum Glück habe ich eine Angststörung bekommen. Sie hat mich gerettet. Sie hat mich aus dem System ausbrechen lassen.
Als die Angst kam, ist mein Leben ein bisschen aus den Fugen geraten. Hahaha, ein bisschen. Nein, komplett. Es gab so viele Tage, an denen ich mich krankmelden musste – im Job oder in der Uni – weil ich einfach nicht in der Lage war, aus dem Haus zu gehen und zur Arbeitsstelle zu kommen. Ich habe diese Tage gehasst und mich geschämt. Die Fassade meines „perfekten Mädchens“ bröckelte. Am Anfang waren diese Tage noch selten und die Angst überkam mich am morgen spontan. Aber irgendwann fing es an, dass ich mir samstags bereits Gedanken gemacht habe, wie ich montags drauf zur Arbeit kommen soll. Ich bin am Wochenende mehrfach die Strecke mit meinem Freund gefahren, damit ich sie am Montag auch alleine meister. Ganz „alleine“ war es aber nie, denn ich musste die gesamte Fahrt über mit ihm telefonieren, sonst habe ich mich zu hilflos gefühlt.
Wenn der Tag mit Angst beginnt
Dein Tag beginnt also so: 06:30 Uhr. Du wachst auf, das erste , an das du denkst ist: „Wie soll ich bloß dahin kommen?“ Du gehst im Kopf schonmal die gesamte Strecke durch. Kennst die potenziellen Staustellen. Fragst dich, ob da wohl heute viel Verkehr sein wird. Du heulst, denn Panik macht sich in dir breit. Du fragst deinen Freund, ob er mit dir telefonieren kann, während du fährst. Er sagt klar. Du fragst, ob er auch die ganze Zeit über mit dir telefonieren könne. Er sagt wieder klar. Du bist dankbar und fühlst dich schuldig. Es tut dir leid, dass du ihn gleich 30 Minuten in Anspruch nehmen musst.
Es ist 7:00, du musst um 09:00 losfahren. Ach, komm, scheiß drauf. Ich fahr jetzt los, dann hab ich es hinter mir. Noch zwei Stunden warten und darüber nachdenken? Pack ich nicht. Bin lieber 07:30 Uhr als erste im Büro. Hauptsache ankommen. Deine Haare sind noch nass, egal. Hauptsache jetzt los. Du suchst hektisch deine Sachen zusammen, fragst deinen Freund nochmal, ob er dann jetzt gleich mit dir telefonieren kann – du rufst an, wenn du im Auto sitzt. Er sagt klar. Gibst ihm einen Kuss zur Verabschiedung und erkundigst dich sicherheitshalber nochmal ob er sein Handy am Mann hat und ob es denn auch auf laut stehe. Dann nur noch schnell los. Das war meine Realität. Jahrelang. Jeden fucking Tag.
In der nächsten Phase bin ich dann gar nicht mehr alleine gefahren. Ich musste zur Arbeit gebracht und abgeholt werden. Ich wiederhole. Ich musste zur Arbeit gebracht und abgeholt werden. Ja, das ist super unangenehm, das ist extrem peinlich und erzeugt noch extremere Schuldgefühle.
Es muss sich was ändern
Doch dann kam die Wende. (Doch dann, dann kam die Wende. Unser Leid war zu Ende! Hip hip Hurra) Sorry, die Vorlage war zu steil. Der gamechanger sozusagen (Wird das eigentlich noch Wort des Jahres?). Ne ernsthaft jetzt.
Wir haben entschieden, unser eigenes Ding zu machen. Wir haben entschieden, selbstständig zu sein. Selbstständig zu arbeiten. Selbstständig zu bestimmen. Das hat mir den äußeren Druck genommen. Ich muss nicht zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort sein und schön 9-10 Stunden funktionieren, um Geld zu verdienen, damit ich meine Wohnung bezahlen kann, ich der ich eh nie bin, weil ich ja die meiste Zeit im Büro sitze. Ich bin so dankbar, dass mein Mann (damals Freund) mich an die Hand genommen hat, seinen Job gekündigt hat und mit mir zusammen ins kalte Wasser gesprungen ist.
Wir haben uns unser eigenes System geschaffen. Wir arbeiten so frei und können uns so viele Freiheiten nehmen, wie wir brauchen und möchten.
Ich habe einfach nicht in das System gepasst. Aber das ist nicht schlimm. Mach dir einfach dein eigenes und versuche nicht Leuten zu gefallen, die du eh nicht magst. Natürlich hab ich heute auch noch Angst und Panik (wenn auch nur noch sehr sehr selten), aber ich leb die beste Version meines Lebens und die ist eben irgendwie daneben. Liebs.