Zimmer frei – eine deutsch-ukrainische Freundschaft Teil 1

In ein paar Tagen jährt sich der Kriegsbeginn der Ukraine. Schon ein Jahr, wie die Zeit vergeht. Es ist so verdammt krass, wenn du älter wirst. Ich habe das nie glauben können, wenn Leute das früher gesagt haben. Aber es stimmt einfach. Mit 30 gehst du einfach in so eine kleine Zeitbeschleunigungskapsel und alles rauscht an dir vorbei. Corona war schon richtig krass und dann, man hatte sich gerade mit der Situation  abgefunden, herrscht plötzlich Krieg. Nicht hier vor der Tür, aber in Europa und das ist für mich wirklich unvorstellbar gewesen.

Krieg in Europa

Die ersten Nachrichten kamen über Flüchtlingen, die nach Deutschland flohen und in unserer Verzweiflung über diesen Krieg und dem Wunsch danach zu helfen, haben wir Anfang März ein Zimmer angeboten. Zu der Zeit hatten wir kein wirklich freies Zimmer, aber wir hatten ein großes gemeinsames Arbeitszimmer mit angrenzendem Badezimmer, das wir dann im Falle dass sich jemand meldet, räumen könnten.

Auf meinen Post bei Instagram kamen ein paar Anfragen, aber irgendwie nichts konkretes. Deshalb hab ich ein bisschen recherchiert, wie man helfen kann und bin bei Instagram oder Facebook auf die Hardcore Help Foundation gestoßen, eine Organisation aus Lüdenscheid, die gute Dinge für Leute in Not tun.  Passt. Dort hab ich dann einfach meine Kontaktdaten hinterlassen und ein Zimmer als Übergangslösung angeboten, falls das benötigt würde.

Dann ging es für uns allerdings im März erstmal nach Österreich in den Urlaub und der Krieg rückte weit weit weg. Wir hörten keine Nachrichten und waren komplett im Urlaubsflow. Am 3. April kamen wir wieder. Das war ein Sonntag und wir waren nachmittags noch bei meinen Eltern Kaffee trinken, bevor wir dann nach Hause fahren wollten.

Der Anruf

Beim Kaffeetrinken bekam ich einen Anruf. „Hey Sarah, ist euer Zimmer noch frei? Heute Abend kommen drei Personen in Lüdenscheid an, die noch keine Unterkunft haben.“ Krass, ok. Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet. Erstmal hatte ich nicht gedacht, dass sich überhaupt noch jemand auf das Angebot meldet und dann irgendwie nicht so spontan. Wir einigten uns darauf, dass sie in der ersten Nacht eine Notlösung finden würden für die drei und sie dann gerne am nächsten Tag zu uns kommen können.

Das Zimmer. Ja, wir hatten ein Zimmer. Frei war es noch nicht. Also sind wir nach Hause und haben die halbe Nacht unser Büro ausgeräumt, zwei kleine Zimmer umgeräumt und unsere Arbeitsplätze eingerichtet. Haben das Zimmer geputzt, Betten rein gestellt, frische Bettwäsche drauf getan und ein bisschen nervös gewartet, was und wer da auf uns zukommt.

Die Ankunft

Gegen Mittag standen sie da auf der Straße vor unserem Haus. Tamila, Tanja und Tymur. Wir hatten einen kleinen Text bei google translator vorbereitet, irgendwie sowas wie: „Herzlich willkommen. Fühlt euch wie zu Hause. Bitte sagt uns bescheid, wenn ihr etwas braucht.“

Die drei sprachen kein Wort deutsch und kein Wort englisch, wir dafür weder russisch noch ukrainisch, aber google klärt. Im Laufe des Tages stellt sich also heraus, wie die Verwandschaftsverhältnisse der drei sind. Tamila und Tanja, beide Mitte 40, sind Freundinnen und kennen sich ein Leben lang. Tymur ist 16 und Tamilas Sohn. Es gibt aber noch mehr Kinder. Tymur hat eine kleine Schwester, Nastya. Und Tanja hat eine erwachsene Tocher – Anna und einen bereits 8-jährigen Enkel. Alle sechs haben die Reise aus der Ukraine gemeinsam angetreten. Von Odessa nach Moldawien, später dann von dort aus nach Polen und dann über Berlin und Köln nach Lüdenscheid.

Die Anderen

„Aber wo sind die anderen?“ frage ich sie. Die anderen seien noch in Polen. „In Polen?“ Ja, die Reise war ungewiss und man müsse erst eine sichere Unterkunft finden, um die Kinder nachholen zu können. „In Polen?“ In Tanjas wunderschönen Augen steigen Tränen auf. Ich bekomm plötzlich einen dicken Klos im Hals, auch mir kommen die Tränen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sein muss, auf einer Reise zu sein und das Ziel nicht zu kennen. Nicht zu wissen, ob man einen Ort findet, an dem man Unterschlupf bekommt. Nicht zu wissen, wann man sein Kind wieder sieht. „Ihr habt den Ort gefunden“ lass ich google übersetzen. Bitte holt eure Kinder. Wir räumen weiter um und wir werden genug Platz finden. Es ist ja nur für ein, zwei Wochen denke ich noch. Dann werden sie eine eigene Wohnung haben. Ein, zwei Wochen, das schaffen wir auch zu neunt. Ich sehe die Dankbarkeit in den Augen der beiden fremden Frauen, ihre Erleichterung und ihre Erschöpfung nach der langen Reise. Aber auch ihr Feuer und ihre Freude auf die Kinder, die sie antreibt, ihre Taschen zu packen und sich noch am selben Abend – wenige Stunden nachdem sie überhaupt hier angekommen sind, auf den Weg zu machen, in den nächsten Zug zu steigen und ihre Reise abermals nach Polen anzutreten. Wie stark sind die bitte? Tymur lassen sie hier. Was ein mutiger Junge, denke ich. Alleine in einem fremden Land, bei fremden Menschen, deren Sprache er nicht spricht. Ich bin nervös. Frage alle paar Stunden, ob er was von ihnen gehört hat und wann sie in Lüdenscheid ankommen. Die Nachricht – Mittwoch ist es endlich so weit. Wir gehen alle gemeinsam zum Bahnhof und warten auf den Zug, aus dem sie schließlich alle aussteigen. Nastya strahlt mit ihren 10 Jahren so viel Frische und Positivität und Offenheit aus. Sie lächelt mich an und ich weiß, dass sie meine kleine Schwester wird.

Sie haben drei große Koffer dabei und mehrere Taschen. Trotzdem viel zu wenig für sechs Personen. Die beiden Kinder halten Händchen während wir vom Bahnhof nach Hause laufen. Und dann sind wir da. Wir zeigen ihnen ihre Zimmer und versuchen alles so gut es geht zu erklären. Alle sind sehr höflich und zurückhaltend. Immer wenn ich ihnen was anbiete, lehnen sie dankend ab. Alles was ich will ist dass sie sich sicher und wohl fühlen. 

Danke für Eure Hilfe

Die Zimmer haben wir nicht alleine ausgestattet. Ich hatte bei Instagram eine Story gepostet, dass wir dringend Betten benötigen und wir haben tatsächlich zwei tolle Exemplare einfach so geschenkt bekommen und konnten sie innerhalb eines Tages abholen, beziehungsweise wurde uns eins sogar bis vor die Haustür gebracht! Ich bin immer noch gerührt, dass wir so große Geschenke und Unterstützung erhalten haben. 

Eine eigene Wohnung

Die ersten ein, zwei Wochen strichen ins Land und es kam der Anruf, dass nun eine 1,5 Zimmer Wohnung gefunden worden sei, die wir uns angucken könnten. Ich bin also mit Tamila zur Wohnung und war schockiert, habe aber versucht es mir nicht anmerken zu lassen. Die Vermieter erzählten, dass sie einen Mietnomaden in der Wohnung hatten, der bei Nacht und Nebel die Zeche geprellt hatte und seine Möbel stehen gelassen hatte! Die könne man jetzt natürlich benutzen! Bei den Möbeln handelte es sich allerdings um wirklich alte, dreckige Exemplare, deren Flecken man nicht näher untersuchen wollen würde und man bei Berührung sicher irgendeinen Ausschlag bekommt. Ich hab mich geschämt. Es war offensichtlich dass diese Vermieter die Situation nutzen, um von der Stadt eine sichere Miete zu kassieren und sich gleichzeitig die Kosten und Mühen einer Entrümpelung sparen wollen. Internet müsse man natürlich selber bezahlen, es kommt nicht in Frage, dass man das Internet der mit im Haus wohnenden Vermieter mitnutzt. Und auch hier wäre ich gern im Boden versunken. Ich stehe hier vor diesen Snobs, mit einer Frau, die gerade ihre Heimat verlassen musste. Die ihren Job aufgegeben hat, ihren Mann zu Hause lassen musste, die nur einen Koffer voll Eigentum für sich und ihre zwei Kinder dabei hat, die unsere Sprache nicht spricht und deren Leben einfach von heute auf morgen komplett auf den Kopf gestellt wurde von irgendwelchen machtbesessenen Politikern, die denken, sie könnten sich nehmen was sie wollen. Und diese aufgeblasenen Deutschen in dem 6 Parteien Haus wollen ihr scheiss internet nicht teilen.

Aber ich sage nichts. Es ist Tamilas Entscheidung.

Wir gehen nach Hause. Ich frage sie, wie ihr die Wohnung gefallen hat. Es ist eine schöne Wohnung, sagt sie. Ich sehe Zweifel in ihrem Gesicht. Die Wohnung ist maximal mit drei Personen bewohnbar. Das bedeutet eine Trennung der Familien. Sie fragt mich vorsichtig ob es möglich sei auch zu sechst dort zu wohnen. Ich merke dass sie unter allen Umständen zusammen bleiben wollen. 

Ich spreche mit Timo. 

Wenn ihr zusammen bleiben wollt, könnt ihr gerne bei uns bleiben, sagen wir ihnen. Sie wollen. Wir wollen alle zusammen bleiben. In den ersten Wochen haben wir schon viele Dinge zusammen erlebt, wir haben gemeinsam Ostern gefeiert, waren beim Osterfeuer, haben einen Ausflug in den Wildpark gemacht, kochen jeden Tag zusammen, sitzen abends zusammen und trinken jede Menge Pivo. 

Ich denke in den ersten Wochen so oft dass wir uns so gut verstehen würden, würden wir uns verstehen…

Es klappt alles immer besser, ich fange an die ersten Wörter auf Russisch und ukrainisch zu sagen und sie lernen ihre ersten deutschen. Das ist der Beginn eines wundervollen Jahres mit ganz viel Hilfsbereitschaft und Freundschaft. 

2 Gedanken zu „Zimmer frei – eine deutsch-ukrainische Freundschaft Teil 1“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert